Hätte ein zuständiges Ermittlungsteam den Abgeordneten Ferat Koçak bereits vor einem Anschlag auf ihn warnen können?

Am Donnerstag fand ein weiterer Verhandlungstag im Berufungsprozess gegen die Neonazis Tilo P. (38) und Sebastian T. (41) statt. Seit September läuft dieser vor dem Landgericht zum »Neukölln-Komplex«, einer Serie rechtsextremer Anschläge.

Die Anklage wirft dem Duo unter anderem Bedrohung, Brandstiftung sowie Beihilfe dazu und Sachbeschädigung und Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen vor.

Die Generalstaatsanwaltschaft geht davon aus, dass die Täter Menschen einschüchtern wollten, die sich gegen Rechtsextremismus engagieren. P. war früher AfD-Politiker und T. bei der NPD, nun soll er beim »Dritten Weg« aktiv sein.

Am Donnerstag sagte vor Gericht einer der Ermittler aus, der P. und T. seit 2017 beboachtet hatte.

Ihnen wird vorgeworfen, in der Nacht zum 1. Februar 2018 die Autos von Koçak und Heinz Ostermann angezündet zu haben. Glücklicherweise sprang das Feuer von Koçaks Auto nicht auf sein anliegendes Elternhaus über.

In erster Instanz wurden die Angeklagten vom Vorwurf der Brandstiftung gegen die Autos ihrer politischen Gegner aus Mangel an Beweisen freigesprochen.

Lediglich wegen Sachbeschädigung wurden sie verurteilt. So sollen sie beispielsweise »Rudolf Hess – das war Mord« mit SS-Runen in Neukölln gesprüht haben.

Der Ermittler spricht vor Gericht aus seiner Erinnerung von ausgelesenen Daten aus Funkzellenabfragen, Laptops, Festplatten und Smartphone der Angeklagten, die der Staatsanwaltschaft und dem Gericht vorliegen und die das zuständige Ermittlungsteam sammelte. Teilweise werden sie über einen Bildschirm auch für die Verteidigenden und anwesende Presse sichtbar.

So sei die Adresse Koçaks vor dem Anschlag mehrfach bei Google Maps eingegeben worden, die Wohngegend ausgespäht worden, wie auf einem Bildschirmfoto eines Foto-Ausschnitts aus der Vogelperspektive vor Gericht gezeigt wird.

Das Ermittlungsteam beobachtete T. laut Aussagen des Zeugen bereits 2017 dabei, wie er vor dem Eltenhaus von Koçak stand.

Der Zeuge sagt, man habe ihn damals nicht als Ziel gesehen und vermutet, dass T. eventuell ein Haus kaufen wollte.

Wird man nicht misstrauisch, wenn Neonazis vor dem Haus eines Linken-Abgeordneten auftauchen, dessen Gegend sie sich vorher auf Google Maps angeschaut haben?

Seinen Aussagen zufolge ergab eine Datenauswertung von 2017, dass Gespräche zwischen T. und P. eine mögliche Verfolgung des Linke-Abgeordneten beinhalteten. Auch grobe Beleidigungen gegenüber Koçak ließen sich laut Aussagen des Ermittlers aus Chatverläufen entnehmen.

Wie bereits beim zweiten Verhandlungstag im September (»nd« berichtete), versuchte diesen Donnerstag einer der Verteidigenden von T., Gregor Samimi, durch mehrfaches Befragen zu scheinbar irrelevanten Informationen, dass Erinnerungsvermögen des Zeugen in Zweifel zu ziehen.

Parallel zum Gerichtsverfahren prüft ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss des Abgeordnetenhauses verschiedene rechtsextreme Vorfälle in Neukölln und das Versagen der Behörden.

Der nächste Prozesstermin ist der 11. November. Ferat Koçak und Heinz Ostermann sollen als Zeugen aussagen, linke Gruppen rufen zur solidarischen Prozessbegleitung auf. Vier weitere Termine nach dem 11. November sind für denselben Monat angesetzt.

»Wenn ich rechte Strukturen in den Sicherheitsbehörden kritisiere, dann meine ich genau das: Warum werde ich nicht gewarnt, wenn Beamte Nazis vor meinem Haus beobachten? Die Aufklärung kann jetzt nur der Untersuchungsausschuss leisten. Die Akten müssen sofort freigegeben werden«, sagte Koçak »nd«.