Es war in Bautzen, an einem Frühlingsabend. Lares und seine Freundin gingen zum Skateplatz, um mit ein paar Freunden ein bisschen an der Musikbox zu sitzen, ein paar Biere zu trinken. Doch die Faschos waren auch schon da.

Lares ist erst 16, aber er kennt dieses Gefühl schon. Wie plötzlich jede Stimmung endet, wie die Panik aufsteigt, weil man weiß, dass diese Typen Feinde suchen. Er erzählt davon nicht wütend oder gestikulierend, eher betont nüchtern.

Sie waren zehn, fünfzehn Meter entfernt, sagt Lares. Fünf Leute vielleicht, er kannte niemanden von ihnen. Er hörte, wie die Sprüche in ihre Richtung lauter und schließlich unüberhörbar wurden. Naziparolen waren darunter, irgendwann hörte er die Freundin des Wortführers auf diesen einreden. “Die machst du doch mit einem Schlag alle weg!” Und ein anderer sagte: “Ich hab das Messer dabei.”

Lares schaut mich an. “Da denkst du doch nur noch: Ich geh jetzt. Ich geh jetzt sofort.”

Vor ein paar Jahren entdeckte ich bei einer Recherche einen alten Zeitungstext aus der Süddeutschen über meine Heimatstadt Frankfurt (Oder). Er erschien 1998, als ich dort gerade Abi machte, und heißt “Wenn die Graswurzeln braun werden”. Der Autor Birk Meinhardt lief ein paar Tage durch dieselbe verbaute, graue Innenstadt wie ich langhaariger Teenager.

Meinhardt beschrieb nicht nur, was damals jede:r sehen konnte – wie junge Neonazis Leute jagten, die ihnen links oder nicht deutsch oder sonst wie falsch vorkamen. Er beobachtete auch, wie erfolgreich diese rechten Teenager gleichzeitig versuchten, Sympathien in der Mehrheitsbevölkerung zu sammeln. Wie sie zur Freude von Rentnerinnen in Altersheimen mit deutschen Liedern auftraten, wie sie deutsche Eichen pflanzten, nationale Au-pairs anboten, vor Parks mit Transparenten vor Drogenhandel warnten. Getreu dem italienischen Kommunisten Antonio Gramsci, nach dem eine Bewegung die Zivilgesellschaft erobern muss, damit die Revolution eines Tages reif ist wie ein Apfel im September.

Meinhardt schrieb:

“Man sieht und hört sie lange nicht, die Veränderung. Vielleicht spürt man sie zuerst, so wie man an leicht schwingenden Gleisen die Bahn spürt, die noch Kilometer entfernt ist. So ein Vibrieren läuft gerade durch Ostdeutschland. Still, aber nicht heimlich wird gerade eine neue Kultur installiert, rechte Alltagskultur, die nicht verschwindet wie der Schläger nach der Tat, sondern lange bleiben wird.”

Es wäre interessant zu wissen, was Meinhardt – der viele Jahre später eine Debatte über linke mediale Einseitigkeit auslöste – heute zu seinem Text sagt. Der Zug, den er damals auf den Gleisen spürte, ist jedenfalls angekommen. Rechte Alltagskultur ist in vielen ländlichen Gegenden Realität. Sie ist die Grundlage der AfD-Wahlerfolge – und das Ergebnis einer Strategie, die von den Nazis der Neunziger vorangetrieben wurde.

Man kann solche Räume leicht übersehen, wenn man als weißer Tourist durch schick sanierte ostdeutsche Kleinstadtgassen läuft. Was wirklich mit einer Gegend los ist, das spüren damals wie heute vor allem die, die schon in den Neunzigern bedroht, verprügelt und verjagt oder getötet wurden: People of Color, Obdachlose – und junge Leute, die, wie Nazis sagen, Zecken sind. Wie ist es heute, als Nichtrechte:r dort aufzuwachsen, wo man Rechten nicht aus dem Weg gehen kann? Auf der Suche nach einer Antwort fahre ich in die Oberlausitz, den östlichsten Zipfel Sachsens, einer Gegend mit starken rechtsextremen Szenen.

Lares wartet am Ufer eines Baggersees in Zittau, einen Spaziergang von den Grenzen nach Polen und Tschechien entfernt. Er ist hager, unauffällig, trägt schwarze Jeans und weißes T-Shirt. Seine Stimme ist leise, sein Auftreten schüchtern, aber ab und zu blitzt ziemlich erwachsener Spott durch seine Worte.

Von seiner bedächtigen Art geht nichts Radikales aus. Er ist ein Teenager, der Abi macht, Schlagzeug spielt und das verachtet, wofür die AfD steht. Lares ist kein Aktivist gegen Rechts, aber er hat schon mal eine Freundschaft beendet, weil der Freund zu Coronazeiten an eine Regierungsverschwörung glaubte. Was nicht heißt, dass er nicht auch über Linksextreme kritisch spricht. In Göttingen oder Leipzig würde er wahrscheinlich nicht weiter auffallen. Doch in seinem Dorf bei Zittau, sagt er, reichten vielen schon seine zum Zopf gebundenen langen Haare, um ihn als Zecke einzuordnen.

“Die Gewaltbereitschaft ist unglaublich”, sagt er. Auch deswegen geht er nicht in die Großraumdissen in den Dörfern um Zittau herum. Lieber hängt er mit Freund:innen draußen rum. “Ich versuche, Konversation mit Nazis zu vermeiden. Besonders, wenn es eine Gruppe ist und Alkohol im Spiel ist”, sagt er.

Während wir reden, läuft ein Mann an uns vorbei. Arme wie Oberschenkel, Tattoos am Schädel, und auf seinem T-Shirt steht in Fraktur: Klagt nicht, kämpft. Lares schaut nicht hin.

Die meisten Probleme, die der Osten heute hat, haben damit zu tun, dass Menschen fehlen. In der heimatfilmhaft schönen Oberlausitz, die sich von Zittau bis fast nach Dresden zieht, rufen an den Straßenrändern meterlange Schilder: Lehrlinge gesucht! Suchen Verstärkung! Deine Karriere im Sicherheitsbereich! Auf einem Plakat wirbt ein Fußballverein um Spieler.

Jahr für Jahr verlässt ein großer Teil der jungen Menschen zwischen 18 und 25 die Dörfer und Kleinstädte – früher in den Westen, heute oft auch in die ostdeutschen Großstädte. Und zu wenige kommen zurück. Wenn über den ländlichen Osten gesprochen wird, geht es nur selten um diese fehlenden Menschen, aber alle zusammen bilden sie ein großes, tiefes Loch.

Wirtschaftlich sowieso: Arbeitslosigkeit ist nicht mehr das große Problem des Ostens, im Gegenteil, Betriebe gehen kaputt, weil sie keine Leute mehr finden. Aber auch politisch, denn noch immer gehen vor allem die jungen Frauen. Sie hinterlassen Regionen mit Männerüberhang. Bei vielen Verbleibenden, das zeigt etwa der Thüringenmonitor, verstärkt die Abwanderung das Gefühl, abgehängt zu sein. Auch deswegen verhärten diese Gegenden politisch immer weiter. Das wiederum schürt im restlichen Land Vorurteile und Angst, die verhindern, dass Menschen hierherziehen. Die demografische Schieflage verschärft die politische und umgekehrt. Teufelskreis klingt da fast zu schwach.

Als manche Soziolog:innen vor zehn Jahren noch behaupteten, Ostdeutschland gebe es gar nicht mehr, da lehrte und forschte Raj Kollmorgen schon zur Unterrepräsention Ostdeutscher an den gesellschaftlichen Schaltstellen. Kollmorgen lebt und lehrt selbst in der Oberlausitz, genauer gesagt in Görlitz, nur etwa dreißig Kilometer von Zittau entfernt.

Was Lares erlebt, das überrascht Kollmorgen nicht. “Wenn mich an all dem etwas wundert, dann, dass sich Leute darüber wundern.” Über die Dominanz rechter Milieus besonders im ländlichen Osten gäbe es nun wirklich ausreichend Untersuchungen. Kollmorgen schätzt, es gebe in den peripheren Gegenden des Ostens mittlerweile einen harten Kern von 30 Prozent, ortsabhängig auch mal an die 50 Prozent, in denen der Habitus tendenziell rechtsradikal und rassistisch sei, “bis tief in die Kinder- und Jugendkulturen hinein.” Das zeigten auch die Ergebnisse für die AfD bei den Jugendwahlen.

Für Kollmorgen liegt eine Chance, die Situation in diesen Räumen zu verbessern, ausgerechnet bei jenen Jugendlichen, die von der rechten Gewalt betroffen sind. Junge Menschen, die auf eigene Initiative Kultur schafften, alternative Projekte aufbauten, Parties und Konzerte organisierten. Er könne, sagt Kollmorgen, niemandem übel nehmen, sich von Rechten abzugrenzen. Und doch rät er, zumindest punktuell Türen für sie offenzuhalten. “Wenn wir irgendeine Chance haben wollen, die da rauszuholen, dann geht es nur mit Initiativen, wo sie mit anderen Jugendlichen zusammenkommen.”

Heuballen und Hakenkreuze, so ist das Klischee vom Osten. Aber wenn man in der Oberlausitz einen Moment Zeit hat, findet man helle Köpfe und tiefe Gespräche, man findet safe spaces und demokratische Offkultur. Vielleicht findet man etwa heraus, dass sich mitten in dem 1500-Seelen-Nest Großhennersdorf bei Zittau ein Bauernhof befindet, der sich, wenn man ihn betritt, als Arthauskino entpuppt, aus dem heraus das Neiße-Film-Festival entstand. Auf dem Hof des Kinos hängen dann Diskokugeln, an gezimmerten Holzbars wird angesagtes Bier verkauft, viele sprechen Englisch. Nazis sieht man hier keine, und das ist auch so gewollt. Leider sieht man auch fast keine Einheimischen.

In den Neunzigern bekam man von rechten Glatzen oft die Bekenntnisfrage gestellt: Rechts oder Links? Dazwischen gab es wenig, und die Antwort konnte über den nächsten Zahnarztbesuch entscheiden – wenn es nicht schlimmer ausging. Faschos hatten die Macht, auf den Hinterhöfen der Neubaugebiete, in den meisten Clubs, nachts auf den Straßen. Für mich bedeutete das damals: Mich mit dem Nazikader aus der Parallelklasse gutzustellen, er trug ein Gaudreieck an der Jacke. Ihm immer mal wieder eine Kippe zu spendieren, in der Hoffnung, dass er in irgendeinem stinkenden Naziwohnzimmer ein gutes Wort für mich einlegen wird, falls ich auf irgendeiner Liste stehe. Erst sehr viel später habe ich verstanden, dass das nicht normal ist.

Auch heute noch müssen viele Jugendliche irgendwann die Entscheidung fällen, wie sie sich zu Rechten verhalten. Abgrenzen oder nicht? So einfach, wie die Antwort aus einem sicheren Großstadtviertel erscheinen mag, war sie schon damals nicht – und heute, wo rechte und rassistische Gewalt auch gegen Kinder und Jugendliche ansteigt, ist sie es noch weniger. Wer sich offen abgrenzt, muss mit offener Gewalt rechnen, wie Lares, der sich genau deswegen auf offener Straße kein FCKNZS-Shirt anziehen würde.

Es gibt es aber auch noch eine andere Art von Gewalt, die Menschen droht, die sich gegen Rechtsextreme positionieren: Isolation, von Freund:innen, in der Familie, in der Nachbarschaft.

“Ich geh wählen. Das ist mein Beitrag. Mehr nicht”, sagt die 19-jährige Kara, die auch zum Zittauer See gekommen ist und neben Lares im Gras sitzt. Ihre Haare sind rotgefärbt und wenn sie spricht, dann wirkt das abgeklärt, irgendwie erwartungslos. Als sollten ihre Sätze zeigen, dass sie nichts mehr erschrecken kann. Vielleicht ist das auch so.

Kara, die sich politisch eher links einordnet, hat in der Coronazeit ihre Lust auf politische Debatten verloren. Nicht, weil sie auf der Straße bedroht worden wäre. Als die Behörden Ende 2020 in Zittau nicht mehr wussten, wohin mit den Särgen, da fing ein naher Verwandter an, den Coronaleugner:innen zu glauben.

Auch Kara lebt in einem kleinen Dorf in der Nähe Zittaus. Sie hat ein Motorrad, mit dem die Gegend hinter der tschechischen Grenze ganz nah ist. Dort rüber wandern ihre Gedanken oft. Kara ist mit einer Frau zusammen, die im ungarischen Pécs lebt. Alle paar Wochen fährt sie mit dem Zug nach Ungarn. Der Plan ist, bald zusammen in Prag zu leben. Wenn sie darüber redet, dann wird aus ihrer Abgeklärtheit etwas ganz anderes.

Das Lächeln verschwindet, wenn sie von den politischen Diskussionen zu Hause erzählt. Wenn sie über den Verwandten “im Leugnermodus” spricht, klingt es so, als spräche sie über einen Teenager, der gerade mal wieder von der Polizei zu Hause abgeliefert wird. Teile ihrer Familie hätten auf ihn eingeredet, sich doch wenigstens eine Maske aufzusetzen, wenn er sich schon nicht impfen lassen wollte. Einmal sei er auf einer Fete gewesen, bei der behauptet wurde, die Politiker seien Reptiloide, die Menschenmasken aufhaben. Wenigstens das habe der Verwandte dann doch nicht geglaubt.

Wenn Kara über ihren Alltag spricht, dann geht es viel um Zusammenhalt. Dann bleibt sie nachts wach, um mit ihrem Motorrad betrunkene Freundinnen aus dem Club abzuholen, oder hilft ihrem Vater am Wochenende, das Haus zu streichen. Politik ist für Kara nicht der Kampf um die bessere Welt, sondern etwas, bei dem ihre Familie auf dem Spiel steht. Etwas, bei dem es nichts zu holen gibt außer Angst und Wut. Etwas, bei dem die lauteste Stimme gewinnt und sie ohnehin nicht durchdringt. Also hält sie sich raus. Die anderen Frauen in der Familie hielten es genauso. “Wir reden über schönere Themen.” Auch so stirbt Demokratie: Wenn die Vernünftigen sich zurückziehen und vereinzeln.

David Begrich, Jahrgang 72, Soziologe und Theologe, hat die Neunziger in Magdeburg miterlebt. Er war dort, als Nazis während der sogenannten Himmelfahrtsrandale 1994 tagelang Jagd auf Schwarze Menschen machten. Er war dort, als die Jugendlichen Torsten Lamprecht, Frank Böttcher und Rick Langenstein von Nazis getötet wurden. Er ist noch heute dort und beobachtet für den Miteinander e.V. die Rechtsextremen in Sachsen-Anhalt.

Die meisten Menschen, sagt Begrich, machten sich ein falsches Bild von rechter Hegemonie. Dass die extremen Rechten eine Gegend dominieren, zeige sich gerade nicht an der Anzahl der Hakenkreuzflaggen, sondern darin, dass sie gar nicht mehr besonders politisch auftreten müssten, weil es kaum Widerspruch gebe.

So gleichförmig rechts sei aber nicht der ganze ländliche Osten. Jede Gegend sei anders, und vor allem: Alle paar Jahre würden die Verhältnisse neu ausgefochten. Entscheidend dafür: Gibt es Widerstand durch die Zivilgesellschaft? Gibt es Sanktionen durch die Politik? Bleiben die wichtigen rechten Akteure oder gehen sie? “Eine rechte Hegemonie ist kein dauerhafter Automatismus. Das kann sich auch ändern.”

Er sei, sagt Begrich, gerade viel auf Grillfesten und Schulveranstaltungen auf Dörfern und erlebe da oft Männer, die zur Generation Bomberjacke der Neunziger gehörten und auch heute noch rechtsautoritäre Einstellungsmuster teilten. Viele von denen würden ihn erkennen – und trotzdem habe er die Erfahrung gemacht, dass sie erreichbar sind. “So tiefsitzend ist die Politisierung auch nicht, dass sie nicht von außen herausgefordert werden kann.” Wichtig sei es seiner Erfahrung nach, Tacheles zu reden und dabei keine platten antifaschistischen Parolen zu dreschen. Dafür gebe es dann durchaus auch Akzeptanz. Bei heutigen rechten Jugendlichen sei das nicht anders.

Begrich plädiert nicht für das berühmte Zuhören oder gar Verständnis für die Rechten, sondern für engagierte, direkte Konfrontation mit ihnen. Viele Altersgenoss:innen, aber besonders Eltern, Lehrer:innen, Sozialarbeiter:innen, gingen dieser Konfrontation aus dem Weg, wollten unter ihr hindurchtauchen. “Aber wenn der Mathelehrer sagt, dass er nur für Mathe da ist, dann reicht das nicht.” Rechte Jugendliche bräuchten fundierten Widerspruch und kein “Das sagt man nicht”.

Kara schreibt an einem Buch, 40 Seiten hat sie schon, es ist auf Englisch, damit ihre Freundin es lesen kann. Es spielt im Nordamerika des 19. Jahrhunderts, auf den Trecks gen Westen. Im Zentrum steht ein junges, behütetes Mädchen, dessen ganze Familie in einem Feuer umkommt, das von Räubern gelegt wurde. Das Waise gewordene Mädchen schließt sich daraufhin einer Gruppe harter Frauen an, um eines Tages Rache an den Banditen zu nehmen. Wie es ausgeht, verrät sie nicht. In ihrem Kopf, sagt Kara, stehe der Plot. Müsse nur noch fertig geschrieben werden.

Ob die Banditen in ihrer Gegend am Ende verlieren werden? Wahrscheinlich werden weder sie noch Lares es aus nächster Nähe miterleben. Sie werden gehen, sie nach Prag, er nach Hamburg oder Berlin, und aus der Ferne verfolgen, was mit ihrer Heimat geschieht. Wie schon die Generation vor ihnen. Und langsam, nur auf den Gleisen zu spüren, nähert sich vielleicht schon der nächste Zug.

  • ladicius@lemmy.world
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    1 year ago

    Ich halte die schweigende Mehrheit für viel wichtiger. Wenn die endlich mal den Mund aufbekäme.